"Michelangelos Moses – Aneignung und Auslegung"
Schule des Sehens, Jakob-Welder-Weg 18 (vor P1)
Mit dem Umzug des Mainzer Instituts für Kunstgeschichte gelangte 2013 ein herausragendes Objekt seiner Sammlung, der steinfarben gefasste Gipsabguss von Michelangelos Moses, in der Bereichsbibliothek des Georg-Forster-Gebäudes zu einer wirkungsvollen Neuaufstellung. Genau 500 Jahre nach der Entstehung des Originals und hundert Jahre nach Erscheinen von Sigmund Freuds vielbeachtetem Aufsatz „Der Moses des Michelangelo“ (in Imago 3, 1914) widmet sich ein Studientag dieser prominenten Skulptur der italienischen Renaissance und ihrem überaus reichen Nachleben. Ziel der Beiträge ist es, die breite Rezeption, die die Statue in Literatur, Psychologie und Musik im Lauf der Jahrhunderte erfahren hat, auf ihre materielle Grundlagen hin zu befragen.
Bekanntlich schuf Michelangelo Buonarroti die Sitzstatue des alttestamentarischen Propheten und Gesetzgebers 1513-16 für das Obergeschoss seines Grabmals Papst Julius’ II., das zu dieser Zeit als freistehendes Monument im Petersdom konzipiert war. Nach der Reduktion des Projekts zum Wandgrab in S. Pietro in Vincoli wurde der Moses mit Blick auf seine nun deutlich niedrigere Aufstellung in einer Nische vermutlich noch einmal überarbeitet, wie die 2004 abgeschlossene Restaurierung nahelegt. Laut Antonio Forcellino und Christoph Luitpold Frommel erfuhren Kopf und Beinstellung der Figur dabei entscheidende Veränderungen.
Früh verstand man die kolossale Statue als programmatische Überbietung der antiken Bildhauerei. Neben der bravourösen Steinbearbeitung beeindruckte vor allem die im Zusammenspiel von Gesicht, Gewand und Gebärde zum Ausdruck kommende Energie. Michelangelos Weggefährte und Biograph Giorgio Vasari rühmte die „unsagbar würdige Haltung“ des Moses und sah in ihm „eine Statue, der kein modernes Werk an Schönheit je gleichkommen wird, wie es gleichermaßen von den antiken gesagt werden kann“. In der Vollkommenheit künstlerischer Gestaltung schien sich jene unaussprechliche Herrlichkeit Gottes widerzuspiegeln, als deren Mittler der Prophet seinem Volk – und dem Betrachter – gegenübertritt.
Immer wieder aber wurde der Ausdrucksgehalt der Skulptur auch auf ihren Autor, den „göttlichen“ Michelangelo bezogen: Die Skulptur schien seine Schaffensprinzipien wie auch sein schwer zu bezähmendes Temperament, die sprichwörtliche terribilità, regelrecht zu verkörpern. So ließ Federico Zuccari den „Divino“ selbst die Gestalt seines Moses annehmen, während die aus der Künstlerbiographik schöpfenden Darstellungen des 19. Jahrhunderts Michelangelo häufig in grüblerischer Zwiesprache mit seinem Alter Ego zeigen. Diesen bis in die Gegenwart fortwirkenden Aspekten der Mythisierung soll ebenso nachgegangen werden wie den psychologisierenden Deutungsansätzen der Moderne.
Als Non plus ultra der neuzeitlichen Skulptur wurde der Moses unzählige Male graphisch wie plastisch reproduziert und auf vielfältige Weise bildkünstlerisch adaptiert. In Form von Gipsabgüssen gelangte er in die Schau- und Lehrsammlungen von Museen und Akademien. In diesem Zusammenhang wird nach Status und Funktion solcher Repliken gefragt und die Herkunft des Mainzer Abgusses aus der Sammlung des „Vereins der Freunde plastischer Künste“ genauer in den Blick genommen.
Im direkten Bezug auf den materiellen Bestand des Gipsabgusses spürt der Studientag den unterschiedlichen Konzeptualisierungen der Moses-Figur in historischer Perspektive nach. Am exemplarischen Fall eines dauerhaft sichtbaren und besonders einprägsamen Objekts sollen nicht zuletzt neue Zugänge zu einem außergewöhnlichen universitären Sammlungsobjekt eröffnet werden. Die Aufbewahrungs- und Aufstellungsgeschichte des Mainzer Moses erlaubt Rückschlüsse auf den sich wandelnden Status maßstabgerechter Gipsabgüsse von kanonischen Werken der abendländischen Skulptur und auf deren Bedeutung als Studienobjekt und Lehrinstrument.